Nach dem Mistral

This entry is part 5 of 22 in the series Marseille
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Frühlingserwachen

Mittwoch, 5. März:

Es sieht so aus, als ob der Frühling endlich Marseille erreicht hat! Sonnenschein, ein blauer Himmel und ein seichtes Lüftchen versprechen einen herrlichen Tag. Richard geht es auch wieder gut. Die Nacht war zwar anstrengend, aber das Fieber ist weg. Madeleine wollte heute sowieso erst Mittag zur Arbeit, und so steht einem gemeinsamen Vormittag nichts mehr im Wege.

Wir entschließen uns, noch einmal zum Hafen zu gehen. Bei diesem Wetter wird der Ausflug sicher angenehmer. Richard ist faul und lässt sich tragen. Sein erstes Abenteuer sind heute ein Haufen Tauben, die er mit den Resten seines Croissants füttert. Er hat sichtlich Spaß und jedes mal, wenn die Viecher durch Passanten aufgescheucht werden auch noch eine ordentliche Portion Respekt. Aber die Größenverhältnisse sind ja auch ganz anders. Fast auf Augenhöhe umzingelt von einer Scharr Vögel – da wäre ich auch vorsichtig. Bei der zweiten Fütterungsrunde spricht uns eine Frau an. Sie ist gerade fertig mit füttern, scheint uns aber erklären zu wollen, dass es nicht erlaubt ist durch Staat oder den Propheten oder so. Auf jeden Fall machen die Tauben nicht soviel Dreck, wie die Hunde. Und ich dachte immer, Pieschen ist schlimm. Hier scheint sich jedenfalls niemand um Hundehaufen zu kümmern.

Das Leben in den Straßen ist erwacht. Auch am Hafen ist diesmal richtig was los. Neben Fischverkäufern und dem Riesenrad gibt es noch einen Süsswarenstand. An dem kommen wir mit Richard natürlich nicht ohne Protest vorbei. Die Zeit ist viel zu schnell um und auf dem Rückweg gibts auch noch ein paar Süssigkeiten, u.a. eine Vogelspinne aus Gummibärchenmasse. Zum Abschied flüstert Richard dem Verkäufer auch ein anständiges au revoir – ich glaub es nicht!

Wir machen noch einen kurzen Abstecher ins Centre Bourse, aber auch hier gibt es ähnlich wie gesterm im Galleries Lafayette nichts Brauchbares. Madeleine sieht das sicher anders, aber es ist schon spät und Richard muss nach Hause. Ein Stück weiter auf dem Heimweg halten wir aber doch nochmal bei einem Tabakladen. Dort bekommen wir zwei Prepaidkarten und Karten für die Straßenbahn/Metro. Der Verkäufer kann englisch und ist sehr hilfsbereit. Er erledigt für uns den ganzen Freischaltungsprozess, und die Schlange wird immer länger. Aber das stört ihn nicht. Jetzt können wir untereinander sogar umsonst telefonieren.

So nochmal schnell Shoppen und dann nach Hause. Madeleine macht sich auch gleich auf den Weg. Richard schaut zwar etwas traurig drein, kann sich aber glücklicherweise gleich wieder fürs Essen begeistern. Wenn ich so auf dem Bett liege und an die Decke schaue – neben mir kuschelt sich Richard an mich, ein paar wärmende Sonnenstrahlen fallen durch den alten hölzernen Fensterladen und im Hintergrund erklingen die typischen Straßengeräusche – fühle ich mich richtig wohl, ein bisschen heimisch könnte man auch sagen. Ich glaube, es wird langsam.

Wir haben verschlafen, es ist schon halb 5! Mein Wecker hat versagt, aber Richard hat uns geweckt. Naja, wir sind ja im Urlaub. Der kleine Mann macht einen munteren Eindruck, ist aber schon wieder ordentlich warm. Die Messung bestätigt – 38.3°. Nach der Vesper sind es schon 38.6°. Dummerweise kann man in dieser Wohnung wirklich nicht viel anstellen und Richard ist richtig gut drauf. Ich gebe ihm noch ein Zäpfchen und dann gehts los. Nach dem Telefonat mit Madeleine steht Richard schon an der Tür und versucht sich die Schuhe anzuziehen. Allerdings möchte er dann doch lieber sofort in die Kraxe – kein Problem. Heute fahren wir das erste Mal mit der Straßenbahn. Diese bringt uns wieder in die Nähe des Hafens. Am Centre Bourse ist ein kleiner Park mit Ausgrabungen, der zu einem historischen Museum gehört. Wir nutzen die Anlage, damit sich Richard die Füße vertreten kann. Mitten im Park beginnt es, neben mir streng zu riechen. Komisch – keiner da außer Rich…

Na toll, was machen wir denn jetzt? Ich hab mir noch gar keine Gedanken gemacht, wie es hier in Frankreich bzw. Marseille mit wickeln in öffentlichen Einrichtungen aussieht. Ich überlege noch kurz, ob ich Richard vlt. einfach in einer abgelegenen Ecke im Park wickle. Aber angesichts seines angeschlagenen Zustandes versuche ich es doch lieber im Gebäude. Gleich unten im Museum sehe ich Toiletten mit Behindertenzeichen – ein gutes Indiz für eine Wickelstation. Allerdings sind die WCs hinter der Kasse. Ich frage bei den Kassiererinnen nach. Die sind zwar von Richard (trotz Odeur) ganz hingerissen, verstehen aber kein Wort von dem was ich sage. Mit Händen und Füßen mache ich ihnen meine Lage begreiflich. Sie lassen mich zwar rein, geben mir aber nur 2(!) Minuten, da das Museum schließt. Ich versuche noch auf wenigstens 4 Minuten hochzuhandeln, wohl wissend, dass das immer noch sehr knapp bemessen ist. Doch obwohl auf der Hand liegen sollte, warum ich länger als 2 Minuten brauche, habe ich keine Chance. Hände und Füße sind halt ein sehr eingeschränktes Kommunikationsmittel icon smile Nach dem Mistral

Also ist Speedwickeln angesagt. Schuhe aus, Hose samt Strumpfhose vom Leib gezogen, Body aufgerissen. Bei der Windel werde ich ruhiger icon smile Nach dem Mistral 3 Minuten und wir sind schon fast fertig. Da kommt doch echt die Kassiererin an und macht Streß. Noch schnell die Schuhe an und dann sind wir wieder fit. Als wir an der Kasse vorbeikommen, scheint es auf einmal niemand eilig zu haben – blöde Kuh!

Nachdem wir wieder frisch sind, laufen wir zum Hafen. Mein Ziel ist es, mit Richard endlich das offene Meer zu sehen. Das ist doch schließlich was anderes, als ein Hafenbecken. Leider schaffen wir das heute nicht mehr, die Sonne steht schon zu tief. Trotzdem ist der Spaziergang entlang des Yachthafens ein Genuß. Überall sind noch Leute auf der Straße, flanieren oder kümmern sich um ihre Boote. Die untergehende Sonne taucht ganz Marseille in ein gleißendes Rot, und die vielen Lichter am Riesenrad begrüßen in Pastelltönen die Nacht. Nach Einbruch der Dunkelheit sorgen Bars, Restaurants und Hotels mit ihrer Leuchtreklame an allen Ecken für ein buntes Lichtermeer. Richard scheint es zu gefallen, er trällert die ganz Zeit vor sich hin und haut mir ab und an auf die Schultern. Ich fühle mich wie ein alter Gaul icon smile Nach dem Mistral

Am Bahnhof holen wir Madeleine von ab und gehen gemeinsam nach Hause. Was wohl unser Auto macht? Aber im Moment haben wir alle drei keine Kraft mehr für einen weiteren Abstecher. Ausserdem wird Richard langsam hungrig. Jedesmal, wenn wir an einem Imbissstand vorbeikommen, streckt er seine Hände aus und protestiert. Aber letztendlich sind wir wieder wohlbehalten in unserem Domizil angekommen und lassen uns zum Abendbrot eine Pizza schmecken. Interessanterweise haben wir in Italien nie soviel Pizza gegessen, und trotz der gehobenen Preise bin ich froh, dass unser Reiseführer nicht recht behält. Laut diesem müssten wir in Marseille 150€ pro Person und Tag einplanen!

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